Anthony Bourdain sagte einmal: „Man erfährt unglaublich viel über einen Menschen, wenn man eine Mahlzeit mit ihm teilt.“ Und tatsächlich: Um eine Stadt wirklich zu verstehen, muss man nicht jede Sehenswürdigkeit abhaken — sollte man essen. Kulinarik zeigt den unverfälschten Alltag einer Stadt; ihre wahren Aromen stehen selten im Reiseführer, sondern in jenen kleinen Alltagsköstlichkeiten, die die Einheimischen seit Generationen lieben.
In Kyoto gibt es viele dieser unscheinbaren Köstlichkeiten, doch eine der beliebtesten ist der Aburi Mochi am Imamiya-Schrein. Diese kleine Spezialität hat sich erstaunlich unverändert von der Heian- bis in die Edo-Zeit erhalten — einfach, zeitlos und überraschend aromatisch.
Was ist Aburi Mochi? Und warum gilt der Imamiya-Schrein als legendärer Ort für traditionelle Süßspeisen?
Aburi Mochi ist eine unscheinbare, aber ikonische lokale Spezialität: daumengroße Reisküchlein, von Hand geformt, auf Bambusspieße gesteckt und über Holzkohle leicht angeröstet, bevor sie mit einer süß-salzigen weißen Miso-Glasur bestrichen werden. Der Zauber liegt im zarten Röstaroma und in der Tiefe des fermentierten Miso — eine süß-herzhafte Kombination, die überraschend süchtig macht.
Der Imamiya-Schrein gilt als die spirituelle Heimat des Aburi Mochi. Versteckt im Norden Kyotos öffnet sich sein Osttor zu einer schmalen Gasse, in der zwei historische Teehäuser seit Jahrhunderten ihre Holzkohleöfen am Glühen halten und die Luft mit dem Duft frisch gegrillter Mochi erfüllen.
Zwei jahrhundertealte Traditionsläden im Vergleich: Ichiwa vs. Kazariya
| Geschäft | Gründungsjahr | Besonderheiten |
|---|---|---|
| Ichiwa (一文字屋和輔) | Jahr 1000 (über 1.000 Jahre alt) | Einer der ältesten noch bestehenden Süßwarenläden Japans, der seit einem Jahrtausend ausschließlich Aburi Mochi serviert. |
| Kazariya (本家 根元 かざりや) | Gegründet 1637 (ca. 400 Jahre alt) | Seit der frühen Edo-Zeit auf Aburi Mochi spezialisiert; liegt direkt gegenüber von Ichiwa und hat eine gemütliche, nachbarschaftliche Atmosphäre. |
Die beiden Läden stehen sich in einer schmalen Gasse direkt gegenüber — ein tägliches Ritual aus zwei Holzkohlegrills und schwebendem Mochi-Duft. Diese Szene gehört zu den charmantesten „kulinarischen Ritualen“ Kyotos.
Ichiwa soll seit dem Jahr 1000 Aburi Mochi anbieten und gilt damit als eine der ältesten Süßwarenhandlungen Japans. Trotz Kriegen und schweren Epidemien haben sie unbeirrt weiter Mochi auf Bambusspießen am Schrein gegrillt — als Schutz vor Unheil und für gute Gesundheit. Im Inneren sieht man bis heute den ursprünglichen Brunnen und die Frauen, die dieses Handwerk über Generationen bewahrt haben. Eine Besonderheit hier: Das Geschäft wird traditionell von Frauen geführt, was Ichiwa seine besondere, beinahe ehrfürchtige Atmosphäre verleiht.
Gleich gegenüber blickt auf „nur“ 400 Jahre Geschichte zurück: Kazariya widmet sich ebenfalls ausschließlich dem Aburi Mochi, allerdings mit einer etwas süßeren Glasur. Auch dieser Laden wird von Frauen geführt. Im offenen Vorderbereich kann man auf niedrigen Bänken sitzen und zusehen, wie die Mochi über der knisternden Holzkohle geröstet werden. Weiter innen findet man einen kleinen Tatami-Raum und einen Gartenplatz — ideal für eine ruhige Snackpause.
Dass diese beiden Teehäuser Seite an Seite bestehen, ist ein lebendiges Beispiel für die japanische 二軒茶屋-Tradition — „Zwillings-Teehäuser“, wie sie sich entlang von Schreinen in der mittleren Edo-Zeit verbreiteten, um Pilgern eine Rast zu bieten. Die Gasse am Imamiya-Schrein ist einer der wenigen Orte, an denen dieses Erbe bis heute fortlebt. Wenn die Zeit es zulässt, empfehlen wir unbedingt, beide Läden zu probieren, um die feinen Unterschiede zu erleben.
Die Geschichte des Aburi Mochi
So klein Aburi Mochi auch ist — so groß ist seine Geschichte. Seit der Heian-Zeit wurden diese Reisküchlein am Imamiya-Schrein als Opfergabe dargebracht, um Krankheiten fernzuhalten und für Gesundheit zu beten. Die runde, weiße Mochi-Form steht für einen heiligen Spiegel, und der Bambusspieß — ein sogenannter „Saikuji“ (heiliger Spieß) — verbindet die Gabe mit dem Göttlichen. Das Grillen über Holzkohle galt zudem als reinigend und schützend. Seit Jahrhunderten sagen die Menschen in Kyoto: „Iss Aburi Mochi – und du wirst nächstes Jahr nicht krank.“
Was einst ein rituelles Opfer war, wurde zu einem geliebten Snack — Kyotos eigene Variante eines traditionellen „Schrein-Süßgebäcks“.
Was ist ein Schrein-Süßgebäck (門前菓子)?
Monzen-gashi sind japanische Süßwaren, die in der Nähe von Tempeln und Schreinen verkauft werden. Ursprünglich für rituelle Opfer hergestellt, wurden sie später zu beliebten Mitbringseln — oft kleinen Glücksbringern, die Schutz und gutes Omen symbolisieren. In Kyoto ist diese Tradition besonders lebendig: Aburi Mochi vom Imamiya-Schrein, Senbei des Kiyomizu-dera (清水寺) oder die Chōgoromo Mochi des Kitano Tenmangū sind nur einige berühmte Beispiele. Jede dieser Köstlichkeiten trägt ein Stück Geschichte und Segen in sich.
Es ist erstaunlich, dass ein so winziger Snack tausend Jahre überdauert hat — vom heiligen Ritual zur alltäglichen Wohlfühlspeise. Ein wahrer Geschmack der lebendigen Geschichte Kyotos.
Unser Besuch: Aburi Mochi bei Kazariya
An einem sonnigen Nachmittag fuhren wir mit dem Fahrrad die Kitaōji-dōri-Straße hinunter, überquerten die Kitaōji-Brücke, bogen in die Kamo-Straße ein und glitten schließlich in die Imamiya-Straße hinein — schon der Straßenname verrät, dass der Schrein nahe ist.
Zuerst wollten wir das legendäre Ichiwa besuchen, doch die Warteschlange war voller Touristinnen und Touristen. Also wechselten wir kurzerhand auf die andere Seite der Gasse zu Kazariya. Dort saßen vor allem Einheimische, und das Personal war unglaublich freundlich — sie boten uns Plätze direkt vorne an, auf niedrigen Bänken, von denen aus man den Frauen beim Grillen über den glühenden Kohlen zusehen kann. Warme Sonne, frische Luft, der Duft von Miso und Reis — perfekt.
Zuerst kam heißer Tee, dann drehten die Grillmeisterinnen mit flinker Hand jeden einzelnen Spieß. Es ist hypnotisierend, ihnen zuzusehen — und sie hatten absolut nichts gegen Fotos. Kurz darauf stand unser Set aus 11 Aburi-Mochi-Spießen vor uns. Die Misoglasur war aromatisch und tief, die Ränder leicht knusprig, das Mochi selbst weich und elastisch — ein süß-salziger Genuss, der mit einem Schluck Tee geradezu himmlisch schmeckt.
Warum genau elf Spieße? In Japan gelten ungerade Zahlen als Glückszahlen — sie lassen sich nicht gleichmäßig teilen und stehen für Dinge, die ganz und verbunden bleiben. Die Zahl elf symbolisiert darüber hinaus langes Leben und Gesundheit. Außerdem heißt es, ein Spieß sei für die Götter bestimmt — man teilt sein Glück symbolisch, und erhält es wieder zurück. Genau deshalb sind diese 11 Aburi Mochi ein kleiner, köstlicher Segen.
Wenn Zeit und Appetit es erlauben, probiert unbedingt auch Ichiwa — nur wer beide Läden besucht, versteht die feinen Nuancen dieser jahrhundertealten Kyotoer Spezialität.
📍 Anfahrt & Öffnungszeiten: So besucht man den Imamiya-Schrein für Aburi Mochi
- Standort: Imamiya-Schrein, Murasakino im Bezirk Kita, Kyoto — die beiden Geschäfte liegen direkt vor dem Osttor.
- Wie man hinkommt: Am einfachsten mit dem Kyoto City Bus bis zur Haltestelle „Imamiya Shrine-mae“. Von dort sind es etwa 3 Minuten zu Fuß.
- Öffnungszeiten:
- Ichiwa: 10:00–17:00, mittwochs geschlossen
- Kazariya: 10:00–17:00, ebenfalls mittwochs geschlossen (Feiertage können variieren)
- Preis: 11 Spieße inklusive Tee — ¥600 (Stand 2025)
Warum man Kyotos Aburi Mochi mindestens einmal probieren sollte
Kyoto besteht nicht nur aus Tempeln und Teehäusern — oft liegen die unvergesslichsten Geschmäcker in einer unscheinbaren Seitengasse verborgen. Aburi Mochi verwandelt Reis, Holzkohle und Miso in einen winzigen Happen lebendiger Kyotoer Tradition, weitergegeben von Generation zu Generation.
Beim nächsten Besuch also unbedingt den Imamiya-Schrein einplanen — ein Gebet sprechen und sich dann mit 11 Spießen hinsetzen. Lasst sich Kyotos Aromen Bissen für Bissen entfalten — süß-salzig und wunderbar zeitlos.