Das Leben in der historischen Stadt Kyoto verläuft in einem angenehm ruhigen Tempo. Kurze Einkäufe auf dem Wochenmarkt, Radtouren entlang des Kamogawa und Besuche in vertrauten Restaurants und Wagashi-Läden (traditionelle japanische Süßigkeiten) prägen einen stillen, harmonischen Alltag.
Der letzte Sommer war wieder einmal glühend heiß. Ohne Zugang zu meinen üblichen, erfrischenden Desserts wie Grasgelee oder Aiyu-Gelee (ein zitrusartig schmeckendes Gelee aus Feigensamen) erinnerte ich mich plötzlich an das Natsukantou von Oimatsu – eine traditionelle japanische Sommersüßigkeit, deren Name poetisch „Sommer-Zitrus-Süßigkeit“ bedeutet. Für dieses Dessert wird eine Orange ausgehöhlt und mit feinem Zitrusgelee gefüllt. Ich war schon immer neugierig auf diesen Geschmack, also machte ich mich auf den Weg ins Kaufhaus Daimaru Kyoto und holte mir dort eines am Oimatsu-Tresen. Damals dachte ich nicht lange darüber nach – nur, dass es atemberaubend aussah, nicht gerade günstig war, ich mich aber ehrlich darauf freute, es zu probieren.
Zuhause schnitt ich es auf – und schon der erste Bissen war überraschend frisch und zart. Je mehr ich davon aß, desto neugieriger wurde ich: Woraus dieses Dessert eigentlich besteht? Wer hat es erfunden? Eine kurze Recherche später stellte ich fest, dass dieses wunderschöne Dessert namens Natsukantou eine bemerkenswert lange Geschichte in sich trägt.
Was ist Natsukantou? Eine Zitrusschale mit einer kühlen Sommer-Überraschung
Natsukantou ist eine ausschließlich im Sommer erhältliche japanische Süßigkeit, die von Oimatsu während der Taishō-Zeit (1912–1926) geschaffen wurde. Die Idee dahinter: das Aromafenster der Natsumikan zu verlängern – einer Zitrusfrucht, die zwar für ihren intensiven Duft bekannt ist, jedoch nur eine sehr kurze Erntezeit hat. Sobald die Temperaturen steigen, verdirbt sie sehr schnell. Die Lösung? Konditoren in Kyoto entwickelten eine Methode, den Saft mit Kanten (Agar-Agar) zu binden und zurück in die ausgehöhlte Schale zu füllen, wo er zu einem kühlenden Gelee erstarrt. Das Ergebnis ist eine perfekte Verbindung aus traditioneller Handwerkskunst und feiner Innovation.
Dieses wagashi sieht einer echten Natsumikan zum Verwechseln ähnlich – komplett mit einem handgeschriebenen Etikett obenauf. Das Auspacken wirkt beinahe wie ein kleines Ritual, als würde man eine frisch gepflückte Frucht von Hand schälen. Im Inneren wartet ein zart durchsichtiges Agar-Gelee. Der erste Bissen offenbart eine sanfte Zitrusfrische – nicht scharf, sondern fein duftend. Dann folgt eine leichte Süße, gefolgt von einer subtilen Bitterkeit, die an Yuzu-Schale erinnert. Ein klarer, erfrischend reiner Abgang, der dem Geschmack zusätzliche Tiefe verleiht. Es ist kein Dessert für jeden, doch wer natürliche, nicht übermäßig süße Süßspeisen bevorzugt, wird dieses wagashi lieben.
Die Zitrusfrucht Natsumikan (eine japanische Sommerorange) wird in Japan seit der Edo-Zeit (1603–1868) kultiviert. Aufgrund ihres ausgeprägten Säureprofils wurde sie traditionell eher eingelegt, als Würzmittel genutzt oder für Konfekt verarbeitet – und kaum frisch verzehrt. Sie in ein elegantes wagashi zu verwandeln, zeigt die Kreativität und Präzision der traditionellen Konfektkunst in Kyoto.
Bemerkenswert ist, dass Oimatsu nicht die verbreitetere, süßere Amanatsu (eine moderne Hybridsorte) verwendet, sondern eine ursprüngliche, herbere Variante der Natsumikan. Diese bezieht Oimatsu von Vertragsbauern aus Hagi, einer historischen Burgstadt in der Präfektur Yamaguchi, sowie aus Wakayama, einer bekannten Zitrusregion an der südwestlichen Küste Honshūs. Jede Frucht wird sorgfältig ausgehöhlt, entsaftet, passiert und anschließend mit Agar und Zucker vermischt, bevor die Flüssigkeit wieder in die Schale gefüllt und zum Gelieren gekühlt wird. Vollständig handgefertigt und aufgrund der begrenzten Erntemenge nur in kleiner Stückzahl produziert, ist dieses saisonale wagashi ausschließlich im Frühling und Sommer erhältlich. Verpasst man die Saison, heißt es: ein Jahr warten.
Die Seele von Natsukantou: Kanten-Handwerk und Teezeremonie-Kultur
Im Gegensatz zu vielen westlichen Gelees, die meist Gelatine verwenden, setzen japanische wagashi traditionell auf Kanten (Agar), ein pflanzliches Geliermittel. Es ist nicht nur mit buddhistischen Ernährungsregeln vereinbar, sondern wird in Kyoto seit der Edo-Zeit besonders geschätzt und bildet einen wichtigen Bestandteil des wagashi-Erbes der Stadt. Die kunstvolle Verwendung von Agar bei Oimatsu erzeugt ein kristallklares, leichtes und geschmeidiges Gelee – frei von jeder Klebrigkeit. Im Vergleich zu pektinbasierten Gelees wirkt es kühler, sauberer und erfrischender – ideal für die frühsommerliche Hitze.
Das feine Aromenspiel harmoniert zudem hervorragend mit japanischen Tees. Ob Matcha, Sencha oder kalt aufgegossener Grüntee – Natsukantou fügt sich mühelos ein. In der Teezeremonie wird es häufig als saisonales wagashi gereicht: ein Bissen Gelee, ein Schluck Tee. Diese Balance verkörpert den klassischen お茶請け – eine Süßigkeit, die den Tee begleitet und seine Aromen 引き立てる (hervorhebt und abrundet).
Auch optisch ist dieses Dessert bemerkenswert – das Gelee schimmert sanft im Sonnenlicht, eingebettet in einer echten Orangenschale. Es ist keine Übertreibung, es als ein „Juwel der wagashi“ zu bezeichnen. Der Name steht nicht nur für seine elegante Erscheinung, sondern auch für seine Seltenheit und seinen kunsthandwerklichen Wert.
Jedes Natsukantou wird mit größter Sorgfalt von Hand gefertigt – von der Auswahl traditioneller Natsumikan-Sorten aus Hagi bis hin zum Entsaften, Passieren, Vermischen mit Agar, dem Befüllen der Schale und dem präzisen Abkühlen. Dieser Prozess verlangt nicht nur handwerkliches Können, sondern auch ein Gefühl für Timing und Detailtreue. Angesichts der limitierten Produktion überrascht es nicht, dass jede Saisonauflage zu den begehrtesten Souvenirs Kyotos gehört. Verpasst man sie, muss man ein weiteres Jahr warten.
Dank ihres exquisiten Geschmacks und ihrer ästhetischen Ausstrahlung taucht die Natsukantou regelmäßig in NHK-Reportagen, Gourmetmagazinen und Kyoto-Reiseführern als „Traum-wagashi“ auf. In der stark saisonal geprägten japanischen Kultur behandeln manche Fans sie sogar als essbares Sammlerstück – sie kaufen limitierte Chargen und bewahren sie mit intakter Verpackung in Kaltlagern auf. Für diese Sammler liegt die Faszination nicht nur im Geschmack, sondern auch in der Haptik der Schale, der handschriftlichen Etikettierung und der Sorgfalt, die in jedem Detail steckt. Diese stille Wertschätzung von Lebensmitteln wird in Dokumentationen oft als Beispiel für die japanische Ästhetik des Essens hervorgehoben.
Aufgrund ihrer kurzen Haltbarkeit und empfindlichen Beschaffenheit wird Natsukantou so gut wie nie exportiert. Nur vereinzelt zeigen hochwertige japanische Süßwarengeschäfte im Ausland oder temporäre Ausstellungen eine Natsukantou – meist als Blickfang, nicht zum Verkauf. Die Seltenheit macht sie zu mehr als nur einem Dessert: Sie ist ein kleines, sinnliches Ritual. Mit jedem Bissen schmeckt man nicht nur den Sommer in Kyoto, sondern erlebt einen Moment stiller, saisonaler Schönheit, geprägt durch Generationen kunstvoller Handwerksmeister.
Über Oimatsu|Eine über hundertjährige Wagashi-Institution
Gründung: Seit 1908 (Meiji 41) besteht das Hauptgeschäft von Oimatsu im historischen Kamishichiken, dem ältesten Geisha-Viertel Kyotos, unweit des berühmten Kitano-Tenmangu-Schreins – einer Gegend, die tief in der Teehaus- und Geiko-Kultur verwurzelt ist.
Hoflieferant: Einstige Hofkonditorei der adeligen Familien Kujō und Reizei; Oimatsu wurde zudem ausgewählt, Wagashi für das Thronbesteigungsbankett des Shōwa-Kaisers herzustellen.
Philosophie: Wagashi wird als kulturelle Brücke verstanden – ein Genuss, der Jahreszeiten, Rituale und die Kunst des Schenkens miteinander verbindet.
Tradition & Innovation: Neben Klassikern wie Natsukantou entwickelt Oimatsu kontinuierlich moderne, kreative Wagashi, die dem heutigen Geschmack gerecht werden.
Teeraum & Erlebnisse: Die Filiale in Arashiyama verfügt über einen Teeraum mit Blick auf einen japanischen Garten und bietet gelegentlich Workshops zum Wagashi-Handwerk an.
Partnerbetriebe: Die für das Natsukantou verwendeten Natsumikan stammen von Vertragsbauern in Hagi (Präfektur Yamaguchi) und Wakayama, was die ursprüngliche Aromalinie der Früchte bewahrt.
Heutige Leitung: Der Inhaber der vierten Generation, Herr Tatsu Ota, ist sowohl Teemeister als auch kultureller Botschafter und engagiert sich im Yufusaikōdōkan für die Vermittlung der Tee- und Gelehrtenkultur.
Das Natsukantou von Oimatsu ist weder prahlerisch noch übermäßig süß – es überzeugt durch seine feine Balance aus Säure, Süße und einer zarten Bitterkeit. Die Verwendung der Zitrusschale als natürliche Servierschale ist ebenso klug wie aromatisch, denn sie bewahrt den authentischen Duft der Frucht. Gleichzeitig sorgt das sanft gekühlte Agar-Gelee für eine erfrischende Textur, die den Sommer auf den Punkt bringt. Und diese leicht anhaltende Bitterkeit im Abgang? Genau das macht dieses Dessert leise, aber nachhaltig unvergesslich.
Neben dem ausschließlich im Frühjahr und Sommer erhältlichen Natsukantou bringt Oimatsu gelegentlich weitere saisonale Süßigkeiten heraus, die ebenfalls aus ganzen Früchten mit Agar-Gelee-Füllung hergestellt werden. Ein Beispiel dafür ist das Bankantou, das typischerweise vom Spätsommer bis zum frühen Herbst erhältlich ist. Der Name Bankantou – wörtlich „späte Zitrus-Süßigkeit“ – verweist auf seine Saison und seine Zutaten: Es wird aus Kawachi Bankan gefertigt, einer japanischen Zitrusfrucht mit hellem Aroma und geringer Säure, die regional auch als Kawachi Yuzu oder Hyuganatsu bezeichnet wird. All diese Sorten gehören zur japanischen Zitrusfamilie und erinnern geschmacklich an eine Mischung aus Orangen und Grapefruits.
Mit seiner milden Süße und einem sanften, an Grapefruit erinnernden Aroma eignet sich Bankantou besonders für diejenigen, die dezente, weniger säurebetonte Fruchtaromen bevorzugen. Manche finden es weniger charakteristisch als Natsukantou – das aus früher geernteten Natsumikan hergestellt wird –, doch bleibt es eine reizvolle und streng limitierte Saison-Spezialität.
Sowohl Natsukantou als auch Bankantou entstehen nach demselben Prinzip: Die Frucht wird ausgehöhlt, mit frisch angerührtem Agar-Gelee gefüllt und anschließend in ihrer natürlichen Schale sanft ausgekühlt. Diese kunsthandwerklichen Desserts werden in kleinen Chargen komplett von Hand gefertigt und sind nur für kurze Zeit verfügbar. Hier ein schneller Vergleich:
| Artikel | Beliebtheit & Marktresonanz | Erlebnis |
|---|---|---|
| Natsukantou | Äußerst beliebt: eine ausgewogene Balance aus Säure und Süße, eleganter Geschmack, limitiert und selten | Ein saisonales Must-Buy; jedes Jahr schnell ausverkauft |
| Bankantou | Mäßig beliebt: mild und erfrischend, an Grapefruit erinnernd, leicht bittersüßer Abgang | Ideal für Menschen, die empfindlich auf Säure reagieren oder etwas Neues ausprobieren möchten |
Das saisonale Sortiment an Frucht-Wagashi von Oimatsu variiert jedes Jahr – abhängig von Ernteerträgen und klimatischen Bedingungen. Manchmal tauchen auch neue Limited-Edition-Kreationen wie Sanjin Souka auf, die jeder Saison einen Hauch von Überraschung verleihen. Selbst wenn man das Natsukantou im Frühling oder Sommer verpasst, wird es bei der nächsten Veröffentlichung garantiert wieder etwas geben, worauf man sich freuen kann.
Wo kaufen|Ein kompakter Guide zu Oimatsus Natsukantou
☞ Verfügbarkeit: Von Anfang April bis in den Hochsommer (typischerweise Juni bis August), abhängig von der Zitrussaison.
☞ Lagerung: Kühl aufbewahren. Ungeöffnet hält es etwa 4–7 Tage. Nach dem Öffnen möglichst bald genießen – man hält es ohnehin kaum aus.
☞ Kaufmöglichkeiten: Erhältlich an den Oimatsu-Verkaufstresen in den jeweiligen Filialen. Aufgrund der begrenzten Stückzahlen empfiehlt sich während der Hochsaison eine Vorreservierung.
Profi-Tipp: Die Schale nimmt besonders leicht Fremdgerüche auf – daher am besten in einem luftdicht verschlossenen Beutel aufbewahren und nicht neben stark riechenden Lebensmitteln platzieren. Für unterwegs empfiehlt es sich außerdem, das Dessert zusätzlich in Frischhaltefolie einzuwickeln.
📍Verkaufsstellen & Highlights
| Filiale | Adresse | Details |
|---|---|---|
| Arashiyama Flagship | Kyoto-shi, Ukyo-ku, Saga Tenryuji Susukinobabacho 20 | Nur in dieser Filiale erhältlich; mit malerischer Aussicht und traditionellem japanischem Garten mit Sitzplätzen |
| Kitano Hauptgeschäft | Kyoto-shi, Kamigyo-ku, Imadegawa-dori Goshonishi-iru, Shake Nagayacho 675-2 | In unmittelbarer Nähe des Kitano-Tenmangu-Schreins; ideal, um Wagashi-Shopping mit Sightseeing zu verbinden |
| Daimaru Kyoto | Kyoto-shi, Shimogyo-ku, Shijo-dori Takakura Nishi-iru, Tachiuri Nishimachi 79 | Zentrale Innenstadtlage; nur begrenzte Stückzahlen verfügbar |
| Saisonale Kaufhaus-Theken | Takashimaya, Isetan usw. — aktuelle Standorte bitte auf der Website von Oimatsu prüfen | Die Standorte können jährlich wechseln – bitte aktuelle Hinweise beachten |
So genießt man Oimatsus Natsukantou am besten
Über Nacht kühlen: Am Vorabend in den Kühlschrank legen – für ein noch aromatischeres, erfrischenderes Geschmackserlebnis.
Schneiden: Quer wie eine Grapefruit aufschneiden und in kleine Stücke teilen. Die Schale dient dabei als natürliche Servierschale – perfekt für Fotos.
Mit Tee kombinieren: Matcha, Sencha oder kalt aufgegossener Grüntee harmonieren ausgezeichnet. Für eine besondere Note: eine Prise Salz oder ein paar Tropfen Sake hinzufügen.
Langsam genießen: Auf der Zunge zergehen lassen, um den fein abgestimmten bittersüßen Abgang wahrzunehmen.
Noch schöner gemeinsam genießen: In Stücke schneiden und mit Freunden teilen – ein Dessert, das schöne gemeinsame Erinnerungen schafft.
Manche Fans experimentieren sogar mit einem Schuss Pflaumenwein oder servieren es zusammen mit Shio Daifuku (gesalzenem Mochi), was eine außergewöhnliche süß-salzige Balance erzeugt.
Ein Dessert, das Kyotos Saison und Seele einfängt
Wenn Sie normalerweise sehr süße Wagashi eher meiden, könnte Natsukantou Sie überraschen. Es ist nicht auffällig, doch sein Geschmack ist klar, fein und leise unvergesslich.
Falls Sie Kyoto zwischen Frühling und Sommer besuchen und in der Nähe von Daimaru Kyoto oder Arashiyama sind, empfehlen wir Ihnen wärmstens, sich ein Natsukantou von Oimatsu mitzunehmen – und es später im Hotel gemeinsam mit einem Freund oder Reisebegleiter zu genießen. Es ist genau die Art von Dessert, die zu einer wertvollen Erinnerung wird – eines, das ein Lächeln hinterlässt und die saisonale Schönheit der japanischen Wagashi-Kultur spürbar macht.